„Alleine wäre ich da nie hingefahren“
FREUNDE der Villa Musica erkunden West-Ukraine in Lemberg und Kiev

Zitat Alexander Hülshoff: „Ich war als Cellist zu einem Konzert in der Philharmonie Lemberg. Das ist eine Stadt in Galizien, heute Ukraine, da fühlt man sich wie in Wien. Es gibt eine habsburgische Vergangenheit, ein prächtiges Opernhaus, viele Cafés, pulsierendes Leben. Ich könnte im September 2018 ein Stipendiaten-Projekt dorthin bringen. Wäre das nicht etwas für die FREUNDE?“,  so der Künstlerische Leiter der Villa Musica im Oktober 2017 - immer darauf bedacht, den Unterstützern der Villa Musica ein Erlebnis zu bescheren. Und deren Vorsitzende, Barbara Harnischfeger, schlägt ein: „Ich bin dabei, ich plane und organisiere die Reise “. Kontakte mit einer Managerin der Lemberger Philharmonie, mit Iolanta Pryshlyak, folgen.  (Hier im Bild rechts, dazu Tetyana Prylipko, die die Korrespondenz in englisch geführt hat, und Hans-Ulrich Stelter ) Die Orchester-Managerin empfiehlt für das Besichtigungsprogramm die Agentur Lemberg-Tours. Recherchen über Sehenswürdigkeiten in der Unesco-Welterbestadt, Mailverkehr zu den möglichen Konzerttermine und –orten in Lemberg. Hotels begutachten im Internet. Das City-Reisebüro in Neuwied wird eingeschaltet für die Hotel-Buchung und die Flüge. Wir müssen über Kiev fliegen, stellt sich heraus. Na, dann bleiben wir auch zwei Tage in Kiev. Der Reisezeitraum ist zu bestimmen, obwohl die Konzerttermine noch nicht genau feststehen.  Im Weihnachtsbrief kündigt die Vorsitzende die Reise erstmals grob an. 56 Freundeskreismitglieder zeigen sich interessiert. Bei der endgültigen Anmeldung im April sind es noch 43 die Zeit haben. Schließlich starten am 16. September 2018  mit Ukraine Airlines von Frankfurt nach Kiev 41 „Freunde der Villa Musica“ – Paare und Singles. Zwei Drittel sind bekannte Gesichter, ein Drittel ist erstmals dabei. Am Ende von allen Seiten Rückmeldungen wie diese: „In die Ukraine wäre ich alleine nie gefahren. Es war ein Erlebnis, eine tolle Zeit mit vielen Erkenntnissen – Danke!“

Unabhängigkeit und Freiheit erkämpfen

Kiev. Der „Majdan“ ist uns ja aus den politischen Nachrichten ein Begriff – die friedliche „Orangene Revolution“ zur Demokratisierung des Landes 2004. 2013/14 dann der „Euro-Maidan-Protest“ als Reaktion auf die Nicht-Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens durch Präsident Janukowitsch. Da gibt es mehr als 80 Tote. „Scharfschützen haben auf die Demonstranten geschossen“, sagen unsere Reiseführer in Kiev. Das habe man im Fernsehen gesehen. Und schließlich haben die Demonstranten - zunächst Studenten, dann ein „Marsch der Millionen“ -Waffen bekommen. Wer wirklich dahinter steckt, dass die Demonstration blutig wurde, werde man wohl nie erfahren. Viele hätten ein Interesse daran gehabt. Positives Ende: die Machtenthebung des Rußland treuen und korrupten Präsidenten Janukowitsch.

Die Stadtführer Pavlo Miadzel und Natalia (Natascha) Jazko weisen uns auf die Corten-Stelen mit Informationstafeln und Fotos von der Revolution hin, mit denen seit einem Jahr die Unabhängigkeitssäule auf dem Maidan umstellt ist.

Wir sollen uns das später genau anschauen. Die „Unabhängigkeitssäule“ selbst - im korinthischen Stil mit einer symbolischen Frauenfigur aus Bronze in 63 Metern Höhe - gibt es auch erst seit 2001. Dafür wurde das „Denkmal der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“, mit der Lenin Statue in der Mitte, abgerissen.

Die Reiseführer in der Ukraine gehören zur Intelligenz des Landes, sind studierte Leute, die Fremdenführer geworden sind, weil man von einem Lehrergehalt zum Beispiel nicht leben könne. Alle sind Menschen um die 40. Sie sehen die Zukunft ihres Landes nach wie vor in der EU, schätzen den Kiever Stadtbürgermeister Vitali Klitschko, nicht weil sie ihn für klug halten, sondern weil er Kontakte zum Westen hat. Bloß nicht mehr sozialistisch werden. Alle Menschen, mit denen wir zusammen kommen, fürchten die Russen, wollen frei leben. Viele sind unzufrieden, dass seit der Unabhängigkeit 1991 noch immer kein stabile politische Situation herrscht.  Noch immer sei die staatliche Verwaltung korrupt. So viele Rückschläge hat es gegeben seit der Loslösung von der Sowjetunion. Eine Schande, dass noch 2010 ein Mann wie Janukowytsch Präsident werden konnte - ein „autoritärer Kleptomane“, der sich am Volksvermögen selbst bereichert hat wie ein Fürst.

Skuriles „Mahnmal der Korruption“

 

 

Im „Park Mezyhriria“, einem ehemaligen Klostergelände nördlich von Kiev, hatte sich Janukowytsch  2010 ein regelrechtes Schloss gebaut, ausgestattet mit  teuersten Materialien, mit wertvollen, wenn auch geschmacklosen und teils skurilen Einrichtungsgegenständen. Genutzt hat er das in seiner Holzoptik von außen bieder wirkende Palais privat mit seiner Geliebten, vielleicht auch für den ein oder anderen Staatsgast. Drum herum ein Anwesen von 137 Hektar mit feudal angelegtem Park, mit Zoo, Reitanlage, Wellness-Bereich, Chemielabor zur Überprüfung der Speisen, mit Jagdrevier - ein Hochsicherheitsgelände, begrenzt von einem Flußabsperrgebiet zu Weißrußland. Jetzt ist das Gelände von ehemaligen Maidan-Kämpfern besetzt und wird in Selbstverwaltung gepflegt. Ein „Mahnmal der Korruption“. Pedro, mit einer historischen Kosaken-Flagge um die Schultern, führt uns und erklärt, sie haben Angst, wenn das Anwesen an den Staat geht, werde der wie andernorts alles ausräumen und vertuschen, was da an „Verbrechen am Volksvermögen“ existierte. Auch kein Vertrauen in die neue Regierung. Die BBC schätzt in einem Bericht von 2018 den Diebstahl am ukrainischen Staat durch das Umfeld Janukowytschs auf 40 Milliarden Dollar. Konten in der Schweiz sind inzwischen eingefroren. Warum wurde Janukowytsch nicht vor Gericht gestellt, fragt ein Richter in unserer Reisegruppe. Nun, die Russen haben ihn gedeckt und die Flucht samt Lastwagenladungen von Wertgegenstände ermöglicht. Außerdem seien die alten mit ihm verflochtenen Richter noch im Amt.

Nicht auf Knopfdruck zu ändern

Am Ende unserer Reise sprechen wir mit dem einheimischen Geschäftsmann Pavlo Kashkadamov, mit dem ich über Rotary international in Kontakt gekommen bin. Er sagt beim Abendessen mit der Reisegruppe: Was in 50 Jahren im Sozialismus entstanden ist, die Korruption in allen Bereichen der  Politik, der Verwaltung und der Juristerei, lasse sich nicht auf Knopfdruck ändern. Der amtierende Präsident Petro Poroschenko sei dran. Vielen, wie den Maidan-Kämpfern, gehe es zu langsam. Aber es brauche Zeit. „Sozialismus und Korruption ist das selbe“, so Pavlo Kashkadamow. „Normale Gesetze gelten nicht. Wir müssen kämpfen. Die Richter werden jetzt nach und nach abgelöst“. Die Besetzung der Polizeistation in Lemberg zum Beispiel sei noch 25 Jahre nach der Unabhängigkeit die alte gewesen. Jetzt sei sie ausgetauscht. „Aber neue unbelastete Leute fallen nicht vom Himmel“.  Was die Korruption in der Wirtschaft betrifft und die Chancen für westliche Unternehmen – Lemberg ist eine IT-Stadt : „Die Welt ist wie sie ist. „In der Ukraine sei die Korruption nicht so hoch wie in der Türkei. Und auch in Japan seien Schmiergelder zu bezahlen. Jedenfalls, in der Ukraine habe es in den zurückliegenden vier Jahren mehr Reformen gegeben als in 25 Jahren zuvor. Zum Beispiel werden die Renten jetzt der Teuerung angepasst und erhöht.

Vor zwei Jahren habe es eine Reform gegeben, wonach die Steuern nicht mehr insgesamt nach Kiev gehen, sondern viel davon in der Region bleiben wo sie gezahlt werden, hören wir. Und deshalb sieht unser Gesprächspartner, dass künftig Geld für den Straßenbau da sein wird, dass die Baudenkmäler restauriert werden können, die bisher nur in Lemberg und in Kiev in der Innenstadt einen guten Eindruck machen , wogegen zum Beispiel die kleine Renaissance-Idealstadt Showkwa, die wir besuchen, noch in einem bedauernswertem Zustand ist. Und ein Guide in Kiev sagt uns, die klassizistischen und neobarocken Nachkriegsbauten am Hauptboulevard Chrescatyk in Kiev seien Potemkin’sche Dörfer, also nur die Fassaden seien schön gestrichen. Fazit des einheimischen Lembergers Pavlo Kashkadamov, der seine Telefon- und Kabelnetzfirma inzwischen an einen Holländer verkauft hat: „Geben Sie uns Zeit. Am Anfang der Unabhängigkeit haben die kleinen Leute gedacht, sie können nichts bewirken. Jetzt haben wir zwei Revolutionen gemacht. Jeder im letzten Karpatendorf weiß, es kommt auf seine Stimme an“. Gegen populistische Politiker, die bei der nächsten Wahl im Frühjahr 2019 wieder viel versprechen, was die Kleinen Leute hören wollen, dann aber nicht gehalten wird oder wirtschaftlich nicht möglich ist, sei man aber – wie in Deutschland auch - nicht gefeit.

Keine Ruhe im Osten

Ein großes Problem in der Ukraine sei jedenfalls die russische Propaganda. Durch Desinformationen werde alles schlecht gemacht, um die Gesellschaft zu verunsichern und  zu destabilisieren. Propaganda sei auch ein großer Teil des Krieges im Osten der Ukraine. Den Menschen dort werde Angst gemacht vor den „Faschisten aus Kiev“. Tatsächlich, so erzählt auch einer unserer Stadtführer, dessen Mutter im Osten lebt, hätten die Menschen dort in einer Stadt geglaubt, sie müssten ihre Lenin-Statue vor einer Invasion aus der West-Ukraine schützen.

Der bewaffnete Konflikt begann im Februar 2014, als die ukrainische Regierung nach dem Maidan-Umsturz in einer Übergangszeit war. Betroffen sind die Gebiete von Donezk und Luhansk. Dort kamen russische „grüne Männchen“ über die nicht kontrollierte Grenze. Die prorussischen Kräfte kämpfen für die Abspaltung der zwei durch sie proklamierten Volksrepubliken Donezk und Luhansk von der Ukraine. Von Beginn an wurde der russischen Regierung vorgeworfen, Unruhen während und nach dem Euromaidan zu schüren, in der Absicht, den Osten und Süden der Ukraine zu destabilisieren und abzuspalten. „Unter vorgehaltener Kalaschnikow stimmten 93 Prozent der Bevölkerung für den Anschluß der Ostukraine an Rußland“, sagt unser Guide Pavlo. Die ukrainische Regierung erkennt die Abstimmung nicht an. Anfang September 2014 trat mit dem Protokoll von Minsk („Minsk I“) ein brüchiger Waffenstillstand in Kraft, welcher von der OSZE überwacht werden sollte. Trotz des erneuerten Waffenstillstandsvertrages Minsk II vom 12. Februar 2015 verzeichnen die Beobachter der OSZE bis heute keinen Tag, an dem die Waffen tatsächlich schweigen, täglich sterben auch heute Soldaten und Zivilisten im Konfliktgebiet.

Von Kiev und Lemberg aus gesehen ist der Krieg weit weg. Unsere Reiseführer bedauern, dass das im Ausland nicht erkannt werde und die Touristen ausbleiben. Und dann ist der Krieg plötzlich doch ganz nah. Als wir mit Wolodymyr Kachmar in Lemberg die barocke Peter und Paul Jesuitenkirche besuchen, sehen wir im Seitenschiff die Fotos gefallener Soldaten und ihrer Kinder. Wolodymyr will uns eine Fürbitte vorlesen, die da auf einer Tafel steht und er ringt um Fassung. „ Jede Familie hat ihre Geschichte“, meint er sich entschuldigen zu müssen.

Die Großstadt Kiev

Bleiben wir noch in Kiev, nein, Kyiv heißt das auf ukrainisch, ist eine wunderschöne großzügig angelegte Stadt auf sieben Hügeln. Vom zentralen Kryschatik-Boulevard wo unser Hotel liegt, ist es nicht weit hinauf durch Grünanlagen in die Altstadt, mit der barocken Andreas Kirche. Die ist wegen Bauarbeiten geschlossen, aber wir werden noch genug Ikonostasen-Wände sehen: unter anderem in der barocken Sophienkirche, gelegen hinter einem prächtigen Glockenturm und an einem beeindruckend weitläufigen Platz. Wir schauen von einem der Hügel auf den Dnepro, den Fluss, der Kyiv durchzieht. In welcher Richtung liegt Tschernobyl? Da, im Norden, Luftlinie 100 Kilometer.

Wir sehen den „Bogen der Völkerfreundschaft“, von den Einheimischen auch „Völkerjoch“ genannt. Den möchte man am Liebsten auch noch abreißen. Überhaupt: alles ehemals sowjetische ist verhasst – das merkt man eben auch am Versuch, die russische Form von Namen durch die ukrainische zu ersetzen. Bei den Straßenschildern in Kyiv ist die Ukrainisierung vollzogen. (Ukrainisch ist inzwischen die Unterrichtssprache. Auch in der Politik auf der gesamt­staat­li­chen Ebene, in der Bel­le­tris­tik oder im Hoch­schul­we­sen domi­niert heute das Ukrai­ni­sche, kann man lesen. In anderen Berei­chen, wie in den Print­me­dien oder der Unter­hal­tungs­in­dus­trie sei nach wie vor das Rus­si­sche vor­herr­schend.)

Rußland, Sozialismus, das steht für Überwachungsstaat, für ein unfreies, marodes System, in dem sich nur die Funktionäre bereichern. Wie bei uns in Deutschland nach der Wende möchte man davon loskommen. Nur dass es keine Brüder und Schwestern gibt, die beim Neuaufbau in allen Bereichen helfen. Aber für den Betrachter von außen sieht Kyiv gut aus – im Zentrum monumental eben, mit sowjetischen Straßenzügen der 50er Jahre, die für uns historistisch wirken als ob sie aus der Zeit um 1900 stammten. Westliche Marken sind in den Schaufenstern noch wenig vertreten, nur ein paar Nobelfirmen wie Ferrangano und Gucci in einer Straße hinauf zum Regierungsviertel. Eine hypermoderne Einkaufsmall und nicht weit entfernt am Goldenen Tor die alte Frau mit Kopftuch, die auf dem Mäuerchen sitzend Astern anbietet.

Um nach Babyn Jar außerhalb dem Zentrum von Kyiv zu fahren und die schreckliche deutsche Vergangenheit gegenwärtig zu machen, reicht die Zeit nicht. 34 000 Juden sind 1941 am Rande einer Schlucht erschossen worden. Das Gelände ist in sowjetischer Zeit überbaut worden. Als Gedenkstätte ist es bis heute nicht eindrucksvoll gestaltet, sagt man uns. Schweren Herzens verabschieden sich einige Reiseteilnehmer, die vorhatten, hier wenigstens individuell mit der U-Bahn hinzufahren, von ihrem Plan. In Lemberg allerdings ist die Zerstörung der Synagoge und das Vernichtungslager Belzec in Polen, wohin die Juden deportiert wurden, schon ein Thema während der Stadtbesichtigung.

Archäologische Sensation

In Kiev ist für Touristen der Besuch des „Museums der historischen Kostbarkeiten der Ukraine“ vorgesehen. Tatsächlich eine Sensation: die Goldarbeiten der Skyten, die 1971 in Gräbern gefunden wurden. Die Skyten waren ein Nomadenvolk, das im VII. –VIII. Jahrhundert vor Christus die weiten Steppen der heutigen Ukraine beherrschte. Ganz unspektakulär präsentiert, aber ein Schatz ist das goldene Pektoral, ein Brustschmuck. Neben den Schätzen von Tutanchamun gehört es zum bedeutendsten archäologischen Fund des 20. Jahrhunderts. Das Original werde niemals an andere Museen ausgeliehen. Und: Wir sehen auch einen Kelch aus skytischer Zeit, der im römisch-germanischen Zentralmuseum in Mainz restauriert worden ist. Das „Museum der historischen Kostbarkeiten der Ukraine“ befindet sich auf dem Gelände des Höhlenklosters Lawra in Kyiv.

Goldene Kuppeln und Religionsstreit


Im Klostergelände bekommen wir einen ganz kurzen Blick in einen der unterirdischen Gänge, die eine eremitische Mönchsgemeinschaft um 1051 angelegt hatte. Aber heute ist das sogenannte Höhlenkloster ein oberirdisches Areal mit eindrucksvollem Glockenturm, vielen Kirchen und goldenen Kuppeln. Der Klosterkomplex trägt das Prädikat Unesco-Welterbe. Die größte Kirche ist die barocke Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale. Sie war 1941 unter deutscher Besatzung gesprengt worden und ist erst seit dem Jahr 2000 wieder aufgebaut. Aber das erzählen uns die Führer gar nicht. Die deutschen Verbrechen sind in Kyiv kein Thema. Die sowjetische Vergangenheit ist näher.

Für Erstaunen beim Rundgang durch das Klosterareal sorgen die hochklassigen Mercedes-Wagen, die dort ein und aus fahren. Am Steuer: Mönche, Priester. Wir fragen nach und hören: das Kloster ist russisch-orthodox, von Moskau gelenkt. Dorthin fließt unser Geld, sagt Wolodymyr Kachmar später in Lemberg. Er selbst gehört der Minderheit der griechisch-katholischen Kirche an, die neben dem Patriarch in Konstantinopel auch den Papst anerkennt. Spätestens seit dem politischen Konflikt mit Russland in der Ukraine, drängt die ukrainische Regierung jedenfalls auf eine eigenständige orthodoxe Kirche, unabhängig von Russland. Das Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie, der Ökumenische Patriarch Bartholomaios I. von Konstantinopel, steht hinter dem Anliegen. Die ukrainische Regierung wirft der russisch-orthodoxen Kirche vor, ein "politisches Werkzeug" von Kreml-Chef Wladimir Putin zu sein. „Die russische Kirche unterstütz Putins Hybrid-Krieg gegen die Ukraine und betet Tag und Nacht für die russische Regierung und die russische Armee", so Staatspräsident Petro Poroschenko.

p.s. Hybrid-Krieg: So heißt die neuere Militärdoktrin Russlands, die die Frage beantworten soll, wie ungeachtet der nuklearen Waffen, ihres Horrors und ihrer Abschreckungswirkung, Krieg wieder führbar sein kann – und soll. Sie stammt vom Chef des Generalstabs, dem Zweisternegeneral Valeri W. Gerassimow und wird keineswegs als geheim gehandelt. Es wird zum Beispiel in die „Strategie der Überwältigung“ jede Art von Propaganda eingebaut, von Folklore, „Fake News“ und Cyberverwirrungen bis hin zu aktiven Störmaßnahmen. Auf der Krim wurden Elitetruppen als „kleine grüne Männchen“ ohne Abzeichen und Farben erfolgreich eingesetzt, es werden scheindemokratische Bewegungen initiiert, die auf die Menschenrechte angeblich bedrohter Russen pochen, so kann man nachlesen.

Die Politik beschäftigt uns innerlich. Auch wenn wir auf einer Villa Musica-Reise sind, deren Ziel zunächst das schöne Erlebnis im Umfeld von Konzerten ist. Nicht nur eine Mitreisende schreibt nach der Rückkehr: „Wie froh müssen wir sein, in der Bundesrepublik leben zu dürfen. Das sollte sich eigentlich jeder ständig vor Augen halten.“

Lemberg, Lwow, Lwiw oder Lviv


Die Konzerte erleben wir in Lemberg, ukrainisch Lwiw, russisch und polnisch Lwow (Löwe). Das Foto zeigt eine Probe im Saal der Philharmonie. Schon aus den verschiedenen Namen der alten galizischen Stadt lässt sich der ständige Wechsel der Zughörigkeit über die Jahrhunderte ermessen: 1256 durch einen galizischen Fürsten gegründet, nach Aussterben der Gründer-Dynasie litauisch, dann polnisch. 1356 erhielt die Stadt vom polnischen König Kasimir dem Großen das Magdeburger Stadtrecht. Deutsche Bürger - Juden sowie auch Christen -  siedelten sich an. Die Amtssprache war nun fast 200 Jahre lang Deutsch. Das Siegel des Stadtrates lautete lateinisch CIVITATIS LEMBVRGENSIS.

1772 bei der ersten Teilung Polens wurde Lemberg habsburgisch und blieb es bis 1918. Die Stadt avancierte nach Wien, Budapest und Prag zur viert größten in der Vielvölker-Monarchie. Bauten und Flair dieser Zeit sind erhalten und machen den Charme der heute West-Ukrainischen Stadt aus.

(Zum Verständnis für die heutige Besetzung der Krim durch die Russen und den Versuch, in der Ost-Ukraine Fuß zu fassen: In den drei Teilungen Polens (1772, 1793, 1795) kamen weite Teile des ehemaligen Kosakenstaates Ukraine unter russische Zaren-Herrschaft, erstmals unter Peter I. – der habe sogar den Begriff „Rus“ geklaut – und endgültig unter Katharina II. In mehreren Kriegen mit dem Osmanischen Reich wurden die Steppengebiete nördlich des Schwarzen Meeres mit der Krim, die heutige Süd-Ukraine, erobert. Im Jahre 1794 wurde Odessa begründet, das sich in wenigen Jahrzehnten zum nach St. Petersburg zweitwichtigsten Handelshafen und zu einer der größten Städte des Zarenreiches mit einer ethnisch gemischten (russisch-jüdisch-ukrainisch-griechischen) Bevölkerung entwickelte. Die bis dahin kaum bewohnte Südukraine, amtlich als "Neurussland" bezeichnet, wurde von ukrainischen und russischen Bauern, auch von deutschen, rumänischen und südslawischen Kolonisten besiedelt. Mit ihren fruchtbaren Schwarzerde-Böden wurde die Südukraine zur wichtigsten Kornkammer des Zarenreiches und trug beträchtlich zum Getreideexport bei. Der Begriff Neurussland ist im Jahre 2014 von Präsident Wladimir Putin wiederbelebt worden, um russische Ansprüche auf die Ost- und die Süd-Ukraine zu untermauern.)

Zurück zu Lemberg. Ab 1918 im Ersten Weltkrieg war das Gebiet hart umkämpft, zeitweise russisch besetzt, wurde dann wieder polnisch – bis zum Zweiten Weltkrieg. Da überließ Hitler Galizien zunächst seinem Bündnispartner Stalin. Dieser führte, um den Eintritt der Bauern in Kolchosen zu forcieren, 1932/33 eine künstliche Hungersnot herbei. 3,5 Millionen Menschen starben daran. 1941 dann, beim Überfall auf die Sowjetunion, wird Lwow Teil des deutschen Generalgouvernements und heißt wieder Lemberg. Massenmord an den Juden der Stadt. Zerstörung der Synagoge.  Nach dem Zweiten Weltkrieg zog der sowjetische Sozialismus ein. Industrialisierung, Zuzug von Fachkräften aus der ganzen UdSSR. Bis zu den 1980er Jahren entstehen 137 Großfabriken.  Heute hat das seit 1991 ukrainische Lwiw 760.000 Einwohner. In der IT-Branche sind 30 000 Menschen beschäftigt, es gibt Lebensmittelindustrie, die Schuhfabrik ARA, Textil-Nähereien und 20 Universitäten. Ein weiteres Standbein ist der Tourismus. Insbesondere vor der Fußball-Europameisterschaft 2012 eröffneten zahlreiche neue Hotels und Restaurants in der Stadt.

Lviv ist eine Perle.

Renaissance, Barock, Klassizismus, Historismus, Jugendstil und Art déco sind im Stadtbild erhalten,  nicht im Krieg zerstört worden, auch danach nicht mit sowjetischer Tristesse verschandelt -  auch weil Bürger später erfolgreich Widerstand leisteten, als die Sowjets das Zentrum planieren und Lemberg zu einer kommunistischen Musterstadt mit weiten Boulevards umbauen wollten.

Die Denkmäler, ihr Verschwinden oder ihre Umbenennung, die Baustile in Lemberg, alles erzählt vom ständigen Wechsel in der Geschichte. Das heutige Leben ist südländisch, multi-ethnisch wie eh und je. Überall Kaffeehäuser- dort wickeln die Einheimischen ihre Geschäfts ab, sagt man uns. Individuelle, kleine Läden. Kein Starbucks. Keine Leuchtreklamen. Nur Mac Donalds hat bisher Einzug gehalten – „unsere amerikanische Vertretung“, sagen die Fremdenführer schmunzelnd und zeigen den Fremden das große M als Orientierungspunkt zum Zurechtfinden im Stadtkern. Ich spreche immer von Fremdenführern im Plural, weil unsere 41 Personen starke Reisegesellschaft bei den Besichtigungen in zwei Gruppen geteilt ist, wodurch das gemeinsame Schlendern und das Zuhören – zumal über Kopfhörer – leicht gemacht ist. In der armenischen Kirche, die etwas ganz Besonderes ist durch ihre Jugendstil-Ausmalung, brauchen wir keine Kopfhörer als ein Diakon für uns live singt.

„Wiener“ Opernhaus

Bei all den schönen historischen Fassaden in Lemberg muss das Opernhaus hervorgehoben werden, gebaut 1897 bis 1900. Ein breiter vierspuriger Boulevard mit grünem Mittelstreifen führt dorthin. Vor dem Haus ein Brunnen – früher stand dort eine Lenin-Statue. Der polnische Architekt der Oper orientierte sich an der Wiener Hofoper/Staatsoper. Das Haus wurde zum 100jährigen Bestehen im Jahr 2000 nach der Sängerin Salome Kruschelnytska benannt, einer Diva, die um 1900 in Italien, in Paris und in Südamerika auftrat. Ihre Büste ist im Spiegelfoyer aufgestellt und eine lebensgroße Darstellung kommt einem im Haupt-Treppenhaus entgegen.

Eine Opern-Aufführung können wir nicht sehen. Am Abend als Vorstellung ist, kommen wir erst spät aus den Karpaten zurück – wir wollen ja auch die ländliche Ukraine sehen, sind bei den Felsen der ehemaligen Burg Tustan. Wir fahren durch Dörfer und sind in erstaunlich ausgemalten ländlichen Holzkirchen aus dem 17. und dem 18. Jahrhundert.

Gruppenbild vor Oper in Kiev

Ein schönes Opernhaus in Funktion haben wir in Kyiv erlebt – mit Ballett allerdings. Zu einem klassischen Musikmix wurde die Geschichte um „Master und Margerita“ vertanzt – Szenen aus dem bekanntesten Roman des russischen Schriftstellers Michail Bulgakow, ein Werk der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Eines der Hauptthemen des Romans ist mit den menschlichen Werten wie Gut und Böse, Gott und Teufel, Leben und Tod verbunden. Die Erlösung aller Beteiligten steht hierbei im Mittelpunkt. Einige Kapitel enthalten eine Erzählung über Pontius Pilatus während der letzten Tage Jesu Christi. Ein mystisches Stück. Surreales, das mich an die romantischen Phantastereien eines E.T.A. Hofmann erinnert. Der Tanzstil: weitgehend konventionell, ein wenig auch modern. Ein interessanter Abend in einem historischen Opernhaus, gebaut auch um 1900, allerdings nicht so prächtig wie das in Lemberg.


Villa Musica ist höchst willkommen

In Lemberg sind wir zum Kammerkonzert im Potocki-Palast (Bild rechts) und natürlich in der Philharmonie. Der Auftritt mit dem Lemberger Orchester war ja Aufhänger für unsere Reisepläne. Die Professoren Alexander Hülshoff (Cello), Boris Garlitzki (Violine) und den Stipendiaten Shali Can Gevrek aus der Türkei am Flügel erleben wir mit Beethovens Tripel-Konzert. Stipendiatin Shira Majoni aus Israel spielt von Hector Berlioz das Stück für Viola und Orchester „Harold in Italy“ Op. 16.  Professor Alexander Zemtsov, von Geburt Ukrainer, und schon mehrfach bei der Villa Musica als Bratscher im Einsatz (oben im Bild), dirigiert das INSO-Lviv Symphony Orchestra. Volles Haus und begeistertes Publikum. Einige Tage zuvor war Staatspräsident Poroschenko zu Besuch in Lemberg gewesen und hatte dem Orchester die Auszeichnung „ Nationale Kultureinrichtung“ gebracht – es bringt Anerkennung und es gibt künftig wohl auch etwas mehr Geld für die „Philharmonie“. Getragen von einer Philharmonischen Gesellschaft besteht sie aus zwei Orchestern: einem, das 1902 gegründet worden war und aus dem früher so genannten „Jungen Orchester“, das erst nach 1991 gegründet worden ist, mit Hilfe von Schweizer Sponsoren. Inzwischen ist es etabliert und heißt jetzt International Symphony Orchestra. Zu kämpfen hat dieses Orchester aber immer noch. Es verdient sich sein Geld weitgehend durch Tourneen oder auch durch Beteiligung am jährlichen Mozart-Fest in Lemberg. Dass ein westlicher Künstler wie Alexander Hülshoff mit ihnen auftritt empfinden die Musiker und die Managerin als Auszeichnung. Weitere Zusammenarbeit ist der vielfach geäußerte Wunsch.

Wirkungsstätte des Mozart-Sohnes

Apropos Mozart. Es geht um Franz Xaver Mozart. Der jüngere Sohn von Amadeus, lebte und wirkte ab 1811 in Lemberg. An der  St. Georgs-Kathedrale ist eine Gedenktafel angebracht. Hier hatte er die Aufführung des Requiems seines Vaters zu dessen 35. Todestag geleitet. Als angesehener Pianist und Pädagoge wirkte Franz Xaver bis 1833 in Lemberg, bevor er nach Wien umzog, wo er 1791 geboren war. Karl Böhmer von der Villa Musica hat den Mozart-Sohn musikhistorisch im Programmheft beschrieben, das er speziell für die FREUNDE verfasst hat. Ich hänge die Texte diesem Artikel unter einem eigenen Link an.

Ein Klavierquartett von Franz Xaver Mozart hört die Reisegesellschaft in einem eigens für sie veranstalteten Kammerkonzert von Villa Musica im Potocki-Palast. Dabei auch der Stipendiat Dmytro Udovichenko, ein 18jähriger Geiger aus Charkiw, Ukraine - ein großes Talent, perfekt in der Technik, wie sich bei einer Solo Caprice des ukrainischen Komponisten Myroslaw Skoryk zeigt. In drei Jahren mit gelegentlichen Kammermusik-Projekten bei der Villa Musica wird der junge Musiker sicher an künstlerischer Statur gewinnen – die Entwicklung zur Persönlichkeit ist ja der Sinn der Hochbegabtenförderung bei der Villa Musica.

Die FREUNDE jedenfalls haben Freude dran, aufstrebende Menschen in ihrem Fortkommen zu beobachten.

Für Kontakt zwischen den Künstlern und ihren Fans sorgt die Freundeskreisvorsitzende stets, indem sie gemeinsames Essen organisiert - in Lemberg waren es Stehbuffets in der Philharmonie und im Potocki-Palast. In der Bar des Hotels NOBILIS, wo alle wohnen, geht es dann anschließend weiter mit dem Gedankenaustausch. Auch ohne die Musiker gibt es viel zu diskutieren. Man hat ja so viel erlebt und gehört am Tag – das gilt es zu überdenken und einzuordnen.

Nach der Rückkehr am 24. September schreibt ein weiblicher Neuling in der Reisegruppe: „Was für eine interessante Reise in die Ukraine. Was haben wir für ein Glück in einem demokratischen Umfeld zu leben und die politischen Themen sind doch im Vergleich zur Ukraine zuweilen lächerlich. Mir hat auf der Reise einfach alles gut gefallen und die Truppe war sehr harmonisch beisammen und jeder hat seine Ansprechpartner finden können. Die musikalischen Erlebnisse und das Zusammentreffen mit den Künstlern im Anschluss habe ich sehr genossen.“

Und wie immer kommt die Frage: Wohin fahren wir nächstes Jahr? Ich bin mir sicher: Alexander Hülshoff hat eine Idee, wohin die FREUNDE ihn mit einer Auswahl an Stipendiaten 2019 begleiten können.

 

Text: Barbara Harnischfeger