2010 Polen - Wratislavia Cantans
Kammermusikfreunde schwelgen in Vokalmusik
Am ersten Abend, noch vorm Einchecken im Hotel: die h-moll Messe von Johann Sebastian Bach unter der Leitung von Philipp Herreweghe in der polnischen Nationalkirche St. Maria Magdalena in Breslau. Tage später nach mehreren Ortswechseln: in der Konzerthalle Opern-Gala mit selten gehörten Arien aus Bühnenwerken von Meyerbeer, Rossini und Bellini. Am Dirigentenpult der mitreißende Marc Minkowski. Das waren zwei der Konzerte in Breslau bei der Polen-Reise der FREUNDE der Villa Musica vom 4. bis 12. September 2010.
Anlass für die Fahrt nach Polen war der Besuch in der rheinland-pfälzischen Partnerregion Oppeln und das Gastspiel von Villa Musica in Brieg. Dort im Schloss der Piasten-Dynastie (aus der vorhabsburgischen Zeit) konzertierte das Aramis-Trio, das 2009 den Cours et Concours-Wettbewerb der Villa Musica gewonnen hatte. Martin Emmerich-Violine, Heiner Reich-Violoncello, Fabian Wankmüller-Klavier spielten ein beeindruckendes Konzert mit Mozart, Schumann und einem ausdrucksstarken Chopin. Die jungen Männer haben ihr Publikum ganz für sich eingenommen; nicht nur wegen ihres Könnens sondern auch durch ihre gepflegte Erscheinung und weil sie so kommunikationsfreudig sind. Die Musiker waren nach einer Probenwoche in Engers im Villa Musica-Transporter nach Polen vorausgefahren worden und empfingen die FREUNDE abends im Hotel in Oppeln. Gemeinsam ging es am nächsten Tag nach Brieg. Dort gab es vor dem Konzert ein Mittagessen mit dem Kulturreferenten der Woiwodschaft Oppeln, Janusz Woijcik und seiner Frau, einer Englisch-Lehrerin. Schloss-Direktor Pawel Kozerski, ein in Deutschland geborener Sohn polnischer Zwangarbeiter, seit 43 Jahren im Amt als Schlossverwalter und passionierter Historiker, führte die Reisegruppe ausführlich durch das Renaissance-Bauwerk, dessen Arkadengänge denen des Wawel in Krakau ähneln und das wohl die schönste Renaissance-Anlage in Europa ist. Im Schloss ein Museum mit Kirchenkunst vom 15. bis 18. Jahrhundert. Im Kellergewölbe gibt es 42 Sarkophage mit kunsthistorisch wertvollen Darstellungen der Begrabenen. Ein Sarg aus dem 17. Jahrhundert ist ein Prachtstück des Barock.
Auf der Reise durch Schlesien ständig an der Seite der 43 FREUNDE der Villa Musica war Villa Musica-Chef Dr. Karl Böhmer, seines Zeichens Musik- und Kunsthistoriker. Er lenkte die Aufmerksamkeit unter anderem auf Schloss Pless bei Sohrau in der Niederlausitz, weil dort beim Grafen Promnitz Georg Philip Telemann 1704 Kapellmeister war. Dass Kaiser Wilhelm II. hier zur Jagd ging – die Flure hängen voller Trophäen - und dann im Ersten Weltkrieg auf Schloss Pless sein Hauptquartier hatte, sahen die FREUNDE dann als sie am Tisch mit den Generalstabskarten standen und das Foto gezeigt bekamen, auf dem Kaiser Wilhelm mit Hindenburg und Ludendorff abgebildet ist. Großartig ist der Konzertsaal des Schlosses im neobarocken Stil.
Sämtliche Restaurants zwischen Breslau und Krakau hatte in Absprache mit Dr. Böhmer der in Mainz lebende Pole Robert Pfeifruk gebucht. Und am Besten war das Essen in seiner Heimat Oppeln, wo er sich auskannte. Freundeskreis-Vorsitzende Barbara Harnischfeger hatte sich bewußt für Typisches aus der Landesküche entschieden, was in Polen heißt: deftig. Und alle waren zufrieden. Typisch und hervorragend war der Bigos-Eintopf in Antek bei Oppeln, nicht weit von der Autobahn entfernt. Und: in der Gaststätte am Kloster Leubus: die unterschiedlich gefüllten Teigtaschen; neben Platten voller Fleisch.
Dass es sich bei Kloster Leubus um einen Gebäudekomplex in der Größe des spanischen Escorial handelt und dass von dem, was bisher restauriert ist, der barocke Fürstensaal überwältigt mit seiner Ausmalung und den Statuen aus Stuck, soll nicht unerwähnt bleiben. Hier war Dr. Böhmer als Barockspezialist der beste Reiseführer, den man sich denken kann; wie auch im Barocksaal in der Breslauer Universität, der Leopoldina. Im Musiksaal dieser Universität hat Johannes Brahms seine Akademische Festouvertüre komponiert und aufgeführt. Ein Juwel mittelalterlicher Gelehrsamkeit und die zweitälteste Universität in Europa ist die Jagiellonen-Universität, die Kasimir der Große 1364 in Breslau gründete.
Aber hier geht es nicht um einen umfassenden Reisebericht, sondern um ein paar Schlaglichter, die helfen sollen, die Fotos der Bildergalerie einzuordnen.
Deshalb sei auch der Besuch in der Gedenkstätte Ausschwitz/Buchenau von Krakau aus erwähnt.
Für Krakau samt dem jüdischen Viertel Kasimirz waren einheimische Stadtführerinnen gebucht und es gab eben die Sehenswürdigkeiten, die im jedem Reiseführer beschrieben sind und die Krakau zu einer historisch so bedeutenden Stadt machen. Alte polnische Krönungsstadt mit dem Wawel und mit dem zentralen Platz um die gotischen Tuchhallen. In der Marienkirche der spätgotische Flügelaltar von Veit Stoß. Sensationell diese Plastizität der Schnitzereien und die Farben. In Krakau ging es eigentlich nicht um Musik. Aber prompt suchten sich einzelne Freunde auf eigene Kappe ihr Chopin-Konzert wie es in unterschiedlichen Hotels angeboten wird; und keineswegs von Kaffehaus-Musikern. Barbara Harnischfeger hörte Piotr Tomasz Szczepanik, einen 28 Jahre alten Konzertpianisten mit Master Graden der Juilliard School of Music in New York. Und auch was zum Abendessen im jüdischen Viertel geboten wurde war kein Folklore-Niveau. Das Jascha Liebermann Trio; Violine, Akkordeon und Bass . Der Geiger war Student von Gioara Feidmann, spielte aber auch im Streichquartett, betreut von Krzysztof Penderecki. Im Kasimirz von Krakau gab es natürlich Kleszmer, allerdings in moderner und anspruchsvoller Fassung, und Eigenkompositionen von Jascha Liebermann.
Breslau, die Stadt der Brücken mit der malerischen Dominsel und so wie Krakau mit einem von Patrizierhäusern umsäumten Marktplatz. In Breslau steht in dessen Zentrum das großartige gotische Rathaus. Der Rynek, wie der Marktplatz auf polnisch heißt: ein geschlossenes historisches Bild ohne Bausünden. Dass Breslau mit 650 000 Einwohnern heute eine aufstrebende Metropole und Universitätsstadt ist, bekommt man als kunsthistorisch orientierter Besucher nur am Rande mit.
Aber man spürt schon: Krakau und Breslau, das sind zwei lebendige europäische Städte. Wohltuend: noch sind sie nicht von den Schaufensterauslagen hochpreisigiger Marken-Läden, die westliche Großstädte so austauschbar machen, entfremdet.
Der Reiseteilnehmer Gerd Bauer, der in Breslau geboren ist, war beglückt über das Wiedersehen. „Ich habe alles wiedererkannt“, resümiert er. „Die Polen haben sorgfältig wiederaufgebaut. Die Stadt ist freundlich und belebt.“ Das empfanden auch diejenigen, die zum ersten Mal in Polen waren und zeigten sich dankbar für das Erlebnis eines ersten Kennenlernens.
Grandioser Abschluss der Reise war in Breslau - wieder in der Kirche St. Maria Magdalena - die „Grande Messe des Morts“ von Hector Berlioz. Ein bombastisches Werk. Diese überbordende Instrumentierung, für deren Wiedergabe Bläser sogar zusätzlich zum Orchester in die Seitenschiffe des Chorraumes platziert wurden, hört man nicht alle Tage.
Beim „dies irae“ ließen die Posaunen und Trompeten des Jüngsten Gerichts Schauer den Rücken hinunter laufen. Es ging durch Mark und Bein. Marianne Brühl von den Freunden der Villa Musica kommentierte: „Ich bin ja eigentlich Kammermusik-Fan, aber der Berlioz, das war das Beste im Konzertprogramm der Reise“.
Während ich diesen Bericht schreibe, bin ich in Gedanken schon bei unserer nächsten Reise. Am Pfingstsonntag 2011 soll es nach Halle gehen und dann nach Leipzig zum Bach-Fest. Barbara Harnischfeger