Pianist Alexander Melnikov

Was unterscheidet ein Sinfoniekonzert-Publikum von den Liebhabern der Kammermusik? Die Antwort auf diese Frage von Barbara Harnischfeger gab Alexander Melnikov im Gesprächskonzert am 22. Januar 2012 in Schloss Engers:

„Kammermusik-Publikum ist intelligenter“

Mit dem Pianisten Alexander Melnikov luden die „Freunde der Villa Musica e.V.“ zu einem weiteren Teil der Gesprächskonzert-Reihe anlässlich der 25. Jubiläumssaison ein. Der Abend war spannend wie der anschließend laufende ARD-Tatort: packendes Klavierspiel und originelle Antworten auf die Fragen von Barbara Harnischfeger.

Am Tag des Konzerts sendete SWR1 in der Reihe „Leute“ ein Gespräch mit dem Kabarettisten Matthias Richling, währenddessen der Zuhörer erfuhr, welche große Herausforderung die Aktualität an diesen Bühnenkünstler stellt, denn beginnt seine Vorstellung um 20 Uhr, sollte er auch bis 19.59 Uhr bereit sein, das Programm umzuschreiben, sollte beispielsweise ein Bundespräsident zurücktreten.

Ähnlich spontan muss – und kann – man bei Villa Musica reagieren, wenn ein Künstler ein Stück aus dem angekündigten Programm nimmt. Aus Rücksicht auf die Komplexität der Präludien und Fugen Opus 87 von Dimitri Schostakowitsch hatte Alexander Melnikov, der das Werk nicht teilen oder kürzen mochte, die zweite Klaviersonate fis-moll op. 2 von Johannes Brahms ins Programm genommen. Schade um Schostakowitsch, aber der Ersatz war ebenfalls ein Genuss für das Publikum.

Auch die Drei Klavierstücke D 946 von Franz Schubert fielen bei Melnikov in Ungnade: Er wähnte sie schlicht nicht geeignet für diesen Abend im Saal der Diana auf Schloss Engers und spielte stattdessen Schuberts „Wanderer-Fantasie“ D760. Im Gegensatz zum Komponisten, der seinerzeit zugeben musste, sein eigenes Werk nicht spielen zu können, beherrschte Melnikov Opus 15 und widersprach charmant der Schubertschen Annahme, dass „der Teufel dieses Stück spielen“ solle: Russische Pianisten, zumal einstige Stipendiaten von Villa Musica, sind ebenfalls überzeugende Interpreten.

Schuberts „Wanderer-Fantasie“ orientiert sich mit ihren vier ineinander übergehenden Sätzen an der Sonatenform, wobei man sich der orchestralen Satztechnik von Franz Liszt nähert: Die Zahl der Akkord-Tremoli, ausladenden Akkord- und Oktavpassagen und Arpeggien waren neu im Œuvre Schuberts; Liszt selbst schätzte dieses so anspruchsvolle Werk und führte es häufig auf.

In Engers war es nun Alexander Melnikov, der sich 190 Jahre nach Entstehen der „Wanderer-Fantasie“ in diese Musik versenkte. Perlende Läufe wechseln sich ab mit fragenden, gleichsam solistisch anmutenden Fragekadenzen, als stellte der Pianist persönlich jene im von Schubert adaptierten Poem Georg Philipp Schmidts vertonte Frage: „O Land, wo bist du?“ In brodelnden, jäh hinabstürzenden Akkorden spürt Melnikov dem „dampfenden Tal“ und „brausenden Meer“ nach, von denen der Dichter spricht. Dabei setzt er der markanten Akkordsprache immer wieder sanfte Kantilenen gegenüber, in denen melancholisch auf das Ende hingedeutet wird: „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück.“

Ein Vers, der freilich nicht auf den Künstler des Abends zutraf, der nicht nur mit diesem Werk sein Publikum begeisterte: Neben der raumgreifenden Klaviersonate von Johannes Brahms spielte Alexander Melnikov auch dessen Sieben Fantasien Opus 116 und gefiel hier vor allem mit dem hineintropfenden Adagio in E-Dur, dem zarten Andantino teneramente und dem finalen Capriccio in d-moll, dessen Allegro agitato die Zuhörer mit sich riss.

Schön während des Konzerts wurde klar, dass dieser Pianist der Musik eindeutig den Vortritt lässt. Große Gesten kennt er nur während des Spiels, das mit dem letzten Ton verstummt: Showeffekte oder theatralische Entgegennahme der Gunstbezeugung des Publikums liegen ihm nicht. Und, das sagt er gleich zu Beginn des Gesprächs mit Barbara Harnischfeger, der Vorsitzenden der „Freunde der Villa Musica e.V.“: Er hasst das Wort Karriere.

Zweifelsohne hat er seine erarbeitet, weswegen man Wert darauf legte, gerade ihn, der in Engers schon 1995 anlässlich der Akademie-Eröffnung brillierte, als Gast der gleichnamigen Konzertreihe begrüßen zu dürfen. Aber Karriere und Musik liegen für ihn weit auseinander: Musiker konzentrierten sich heute viel zu sehr auf die Karriere, aufs Geldverdienen. Die Ästhetik der Musik leide oft darunter: „Sicherlich muss man von etwas leben“, weiß auch der renommierte Konzertpianist. Aber der Grundstein dieser Karriere, die Musik, steht bei ihm immer im Vordergrund. Seinen Erfolg schreibt er übrigens auch einem großen Quantum Glück zu: „Es gibt heute viele professionelle Pianisten.“ Und offenbar zu viele, die eine Show daraus machen. Ihm ist dieses Gebaren fremd, auch wenn er auf Paganini angesprochen wird, der sich im 19. Jahrhundert gerne produzierte.

Da verweist er lieber auf die glückliche Fügung, bei einem angesehenen Plattenlabel wie „harmonia mundi“ unter Vertrag zu sein und quittiert die Bemerkung „Wer keine Plattenfirma hat, existiert ja nicht“ mit einem wissenden Lächeln. Für die „harmonia mundi“ hat Melnikov mehrere CDs produziert: Als Solist kann man mit ihm beispielsweise Rachmaninoffs Etudes-Tableaux op. 39 oder Skriabins Klaviersonaten 2, 3 und 9 erleben; Violinsonaten von Bartok und Beethoven spielte er mit der Geigerin Isabelle Faust ein, mit der er auch bei Aufnahmen mit Jean-Guihen Queyras (Dvoraks Klaviertrio Opus 65) und Teunis van der Zwart (Brahms‘ Horntrio Opus 40) arbeitete.

Im Studio fühlt sich der 1973 in Moskau geborene Musiker übrigens wohler als auf der Konzertbühne, wo ihn selbst angesichts der jährlich 100 Konzerte, die er spielt, noch immer das Lampenfieber packt: „Das ist schrecklich“, sagt der Künstler, der seine Inspiration lieber aus dem Stück selbst zieht als aus dem emotionalen Echo, das seine Interpretation beim Publikum hervorruft. Der auf dem Podium herrschende Druck ist im Aufnahmeraum abgeebbt, so dass er freier arbeiten, Sachen ausprobieren und Einspielungen wieder verwerfen kann. Sympathisch offen spricht er von der ihn noch immer plagenden „Angst zu versagen“.

Dabei ist Alexander Melnikov ein gefragter Pianist, dessen Laufbahn auch durch Größen wie Sviatoslav Richter, bei dem er „große und unglaublich wichtige Erfahrungen“ sammeln durfte, in die richtigen Bahnen gelenkt wurde. Heute musiziert Melnikov regelmäßig mit den bedeutendsten Orchestern der internationalen Szene wie dem Russischen Nationalorchester, dem Tokyo Philharmonic Orchestra, dem Gewandhaus Orchester Leipzig, dem Philadelphia Orchestra, dem Philharmonie-Orchester von Rotterdam, dem Orchester des Concertgebouw, dem BBC Symphony Orchestra oder dem BBC Philharmonic Orchestra.

Dass er als Solist in den großen Klavierkonzerten gefragt ist, beirrt ihn nicht in seiner Meinung, dass es „Quatsch“ ist, wenn ein junger Pianist vor allem hier Meriten sammeln soll, denn das Solo-Rezital ist ihm genauso wichtig wie die Kammermusik: „Wann hat man schon einmal das Glück einen richtigen Partner zu finden? Das ist doch ein Schatz!“, resümiert er über sein Zusammenspiel mit Isabelle Faust, mit der ihn seit 2003 eine feste künstlerische Partnerschaft verbindet. Überhaupt mag er sich nicht festlegen und hasst Stereotypen genauso wie das Wort Karriere: „Muss ein russischer Pianist alles schnell und laut spielen? Natürlich kann er nur Tschaikowski geben – aber er muss nicht…“

Im Gegenteil: Weniger ist für Alexander Melnikov immer mehr. Zwar hat auch er ein großes Repertoire und spielt alle Konzertformen, die sich für sein Instrument, das Klavier, anbieten. Doch er fürchtet auch, sich in der Masse zu verlieren, würde lieber weniger reisen, um dem einzelnen Augenblick und hier vor allem dem konzertanten größere Aufmerksamkeit widmen zu können.

Und wenn schon reisen, nimmt Alexander Melnikov sein Publikum gerne mit: auf die Suche nach dem „geliebten Land“ in Schuberts „Wanderer-Fantasie“, mit hinein in das hauchzart und transparente erste Capriccio aus Brahms‘ Fantasien oder die Opulenz der fis-moll-Sonate. Während des Konzertes scheint er das Werkimmanente durch sein Spiel einzukreisen – gleich einem Piloten, der aus der Höhe den Weitblick hat.

Vielleicht hat man diesen Eindruck nicht von ungefähr, denn Alexander Melnikov liebt das Fliegen, hat während einer verletzungsbedingten Zwangspause als Pianist sogar seinen Pilotenschein gemacht, um seinen Traum vom Fliegen zu leben. Während er sich hier jedoch auf dem vergleichsweise sicheren Terrain des Sichtflugs bewegt, kennt er die gespielte Musik natürlich auswendig. Allerdings hat er, für ihn unsichtbar, Partitur-Kopien einem Talisman gleich im Flügel liegen. An diesem interessanten Abend hat er sie nicht gebraucht.

Diese Besprechung schrieb Jan-Geert Wolff, Rezensent der Mainzer Allgemeinen Zeitung und freischaffender Autor. www.schreibwolff.de

 

Dem Künstler ganz nah: das Ehepaar Ludwig aus Kottenheim beim Abendessen im Gespräch mit Alexander Melnikov nach dem Konzert am 22. Januar 2012